Welch ein Abenteuer. Welch ein Erlebnis. Während drei Wochen konnte ich als Technische Delegierte (TD) bei den olympischen Winterspielen mitwirken. Meine bisher beste Erfahrung in dieser Funktion.
Ich bin angespannt. Eine lange Reise steht an und die Corona-Situation ist alles andere als relaxed. Ich distanziere mich von Freunden, um mich die Tage vor der Abreise nicht anzustecken. Unzählige Dokumente und drei COVID-Tests später hebt der Flieger ab. Was mich wohl erwartet, in China?
1. Februar 2022. Schneemänner. Schneemänner und nochmals Schneemänner. Sie empfangen mich nach einer langen Anreise. In den Schweizer Medien nennt man sie auch Marsmenschen, die völlig vermummten Helferinnen und Helfer in China. Ich gewöhne mich schnell an dieses Bild. Und ich habe das Gefühl, das hinter dem weissen Gewand mit Brille und Maske mir jemand entgegenlächelt. Ich lächle zurück unter meiner FFP2-Maske.
Intensives Kennenlernen
Es bleiben noch drei Tage bis zu den ersten Wettkämpfen. Für uns TDs eine kurze Zeit, um alles für den Kampf um die Medaillen vorzubereiten. Denn wir kennen weder Strecke noch die lokalen Verantwortlichen. Normalerweise lernt man alles ein Jahr vor den Wettkämpfen kennen. Doch wegen Corona fielen die Vorbereitungswettkämpfe ins Wasser. Gut – dass in diesen drei Tagen drei Testwettkämpfe auf dem Programm stehen. Diese braucht vor allem das TV, um zu sehen, wie danach Livebilder in die ganze Welt gesendet werden. Stimmen die Kamerapositionen auf der Strecke? Ist das Stadium gut sichtbar? Wie und wann können die Seilkameras eingesetzt werden? Für die Organisatoren ist es ebenfalls eine Hauptprobe für die Abläufe der Athleten und Teams.
Endlich lernen wir auch den chinesischen Wettkampfleiter und weitere Verantwortliche kennen. Alles extrem liebe Menschen – doch leider sehr unerfahren. Den meisten ist nicht klar, was sie hier vor Ort zu tun haben. Die Kommunikation? Nicht ganz einfach. Fast alle Verantwortlichen haben zwar eine Dolmetscherin zur Seite, was jedoch Meetings bedeuten, die Zeit fressen.
Funktion und Team
Als Technische Delegierte bin ich das Bindeglied zwischen FIS und dem Veranstalter vor Ort. Wir sorgen dafür, dass die FIS-Regeln eingehalten werden und die Sicherheit vor Ort gewährleistet ist. Mein Team vor Ort besteht aus vier TDs. Ella, Enzo Jussi und ich. Zum Team gehören auch der Renndirektor der FIS, Pierre, und Renndirektor Assistent Michal. Vor Ort unterstützt uns der chinesische Wettkampfleiter und zwei chinesische Frauen welche für das Rennbüro zuständig sind.
Bis zum Ende der drei ersten Events (Skiathlon, Sprint und Einzel Klassisch) ist Jussi unser Leader der Jury. Er verteilt jedem Jurymitglied seine Aufgaben. Meine ist die Zusammenarbeit mit dem Chef der Technikkontrolle wie auch die Streckenmarkierung. Die Zusammenarbeit mit dem Videokontrollteam beschert mir einige Sitzungen. Ich versuche, ihnen möglichst genau zu erklären, was sie filmen müssen, wo sie stehen sollen, und wann es nötig ist, ein Video in den Juryraum zu genaueren Analyse zu senden. Um Meetings zu vereinbaren, kommunizieren wir über WeChat. Das bringt den Vorteil, dass jeder den Text in seine Sprache übersetzen kann und versteht, um was es geht.
Lasst die Spiele beginnen!
4. Februar 2022. Die Eröffnungsfeier der olympischen Spiele 2022 rauscht über die Bühne. Wir jedoch halten unsere Mannschaftsführersitzung ab und informierten die Teams über den ersten Wettkampf, den Skiathlon Damen. In der Vorbereitung war das Wetter wie erwartet kalt und trocken. Am Tag vom Skiathlon machen wir jedoch das erste Mal die Erfahrung mit dem Wind. Der böige Wind hat uns die klassische Strecke teilweise so sehr zugeweht, dass die meisten Athleten lieber neben der Spur laufen. So müssen wir für den Skiathlon der Männer über die Bücher gehen, ob es in den Abfahrten überhaupt Sinn macht, so viele Spuren zu haben. Gerade in solch einem Fall hat man eigentlich Pistenfahrer, welche auch sonst die Loipen in der Region präparieren und sich mit den Wetterverhältnissen auskennen. Leider ist das hier nicht der Fall. Die chinesischen Pistenfahrer sind noch in der Ausbildung bei Dirk, einem Kanadier, welcher erst angekommen ist. Und sein Helfer Lars aus Norwegen befindet sich noch in Quarantäne. Irgendwie klappt es aber. Und für den Skiathlon der Männer gibt es somit weniger Spuren in den Abfahrten und ein ruhigeres Rennen.
8. Februar 2022. Heute Abend findet der Sprint in der freien Technik. Es ist eisig kalt und wir fragen uns, ob es bis zum Final um 20 Uhr nicht zu kalt sein wird. Erlaubt sind bis -20° C. Je nach Windchill hat die Jury jedoch auch die Möglichkeit diese Limite anzupassen. Wir haben Glück, die Temperatur bleibt darüber. Weniger glücklich ist das Verhalten eines chinesischen Athleten während dem Sprint. Er behindert offensichtlich einen norwegischen Mitstreiter und wird von uns als RAL (Rank as last) sanktioniert. Er verpasst dadurch den Sprung ins Halbfinale. Regeln sind Regeln – da nützt der Protest der Chinesen nichts. Die spätere Beschwerde bei der Appeals Commission wird auch abgewiesen.
Die Einzelläufe in der klassischen Technik am 10. Februar verlaufen ruhiger. Es gibt nur ein paar Sanktionen wegen Verstössen der klassischen Technik. Und mein Video-Kontrollteam freut sich, dass sie beim 15-Kilometer-Wettkampf klassisch der Männer einen erwischen, der in der Kurve geskatet hat.
Leitung der Jury als erste Frau an olympischen Spielen.
Und nun steht also der TD Wechsel an. Zum ersten Mal an olympischen Spielen wird die Position vom TD und dem TD-Assistent nach Hälfte der Wettkämpfe getauscht. Zum ersten Mal übernimmt eine Frau die Juryleitung an den olympischen Spielen. Und ich darf das sein. Wow! Ich leite ab jetzt also die Jury und verfolge zusammen mit Michal die Rennen im warmen (viel zu warmen) Jury-TV-Raum. Wir beide sind verantwortlich für die Juryentscheide während den Rennen. Das macht mich ein bisschen nervös.
12. Februar 2022. Staffel der Damen. Doch wo sollen wir die klassischen Spuren legen? Wir konnten ja im Vorfeld keinen Testevent durchführen und das macht uns auch bei diesem Rennen eher unsicher. Die Wettervorhersage meldet zudem Schneefall, doch wie viel? Die Meteorologen sprechen von wenig. Schliesslich kämpfen wir mit 10 cm in relativ kurzer Zeit. Normalerweise bespricht man sich in einer solchen Situation mit dem Chef der Strecke und informiert die Vorläufer, wann und wo sie laufen müssen, damit in der klassischen Spur so wenig Neuschnee wie möglich für die Wettkampfzeit liegt. Aber eben normalerweise… den hier machen die chinesischen Vorläufer den Eindruck sie absolvieren ein Trainingslager. Brauchen wir sie, sind sie entweder nicht da, müde oder schlotterten vor Kälte. Auch eine lustige Situation: Eine Stunde vor dem Wettkampf. Die Strecke ist frisch gespurt, Markierungen überall gesetzt und somit offen für die Wettkämpfer. Aber die vielen Helfer an der Strecke mit ihren Laubbläsern stehen seelenruhig neben der Spur und schauen zu, wie sich die Spur mit dem Neuschnee füllt. Mit Händen und Füssen versuchen wir ihnen, zugegeben leicht verzweifelt, zu erklären, dass sie nun endlich anfangen sollen, den Neuschnee aus den Spuren zu blasen. Mit viel Geduld und Google Translate schaffen wir das schier Unmögliche und bringen sie zum Arbeiten.
Während dem Wettkampf verfolge ich nun im Jury-TV-Raum zusammen mit Michal den Wettkampf. Dieser läuft ohne Probleme ab und so sind wir in Gedanken sehr schnell bei der Männer Staffel, welche morgen stattfindet. Wir wissen alle: Hier müssen wir noch mehr Einsatz leisten, denn für morgen ist noch mehr Schnee angesagt. Wir versuchen unsere Vorläufer für ihren Einsatz zu motivieren.
13. Februar 2022. Staffelrennen der Männer. Es schneit. Wir entscheiden, dass ich bis am Ende der klassischen Ablösung draussen bleibe, um alles Nötige zu koordinieren. Wir machen vier Gruppen mit Vorläufern, welche von drei Jurymitglieder jeweils genaue Anweisungen bekommen, wann sie auf einem Teilstück ihre Runde absolvieren müssen. Die Athletenteams schätzen unsere Arbeit und sehen, dass wir als Jury alles versuchen, um ihnen die besten Bedingungen zu ermöglichen. Nach dem Teamsprint und der Langdistanz haben wir nun zwei Wettkampffreie Tage vor uns. Doch das bedeutet für uns keine Verschnaufpause.
Nordisch Kombinierer und viele Teams
An den olympischen Spielen führen die Nordischen Kombinieren ihre Wettkämpfe auf den gleichen Strecken durch. So gibt es immer wieder Meetings, um mit ihnen den Tagesplan zu besprechen. Wann findet welches offizielle Training statt? Wir planen das offizielle Training für den Team Sprint klassisch gleich mit ein – mein nächstes Rennen als TD. Und ein Rennen mit 25 Männer- und 27 Frauen-Teams mit einem sehr grossem Leistungsgefälle. Wir müssen also die Überrundungen fest im Blick halten, aber auch die Regelverstösse gegen die klassische Technik, den Wechsel der Teams und die Behinderungen während des Laufes. Die Halbfinale sind echt taff. Vor allem bei den Männern im zweiten Halbfinale haben wir im TV-Jury-Raum alle Hände voll zu tun. Die Finals verlaufen danach fast problemlos, eine Verwarnung und eine gelbe Karte kommt dazu, eindeutige Fälle, es gibt keine Einsprachen.
Nach dem Teamsprint stehen wiederum zwei Tage ohne Wettkämpfe auf dem Programm. Wir können uns voll und ganz auf die Langdistanzen in der freien Technik konzentrieren. Und auf das Wetter: Es wir kälter und windiger.
19. Februar 2022. Der Tag des 50 km Skatingwettkampfes der Männer. Der Start ist um 14 Uhr geplant. Es ist 9.30 Uhr und wir prüfen draussen die Strecke. Die böigen Winde haben den Schnee an manchen Stellen so fest auf die Strecke geweht, dass es alles andere als schön ist, so zu laufen. Die Temperatur: -18° C. Für den Start erwarten wir -15 °C. Wir treffen uns zur heissen Diskussion im Juryraum. Und wir entscheiden uns für eine verkürzte Gesamtstrecke auf 28.4 km. Den Start verschieben wir um eine Stunde auf 15 Uhr. Nicht alle Teams und Athleten sind mit diesen Entscheiden einverstanden, wir jedoch können zu dieser Zeit dahinter stehen. Der Wettkampf selbst verläuft gut. Der kurze 50er ist taff – die besten gewinnen. Das wir so früh entscheiden mussten, hängt auch zusammen, dass man an Olympia früh Planänderungen bekannt geben muss. Änderungen bei einer Sportart haben viele Auswirkungen auf die TV Zeiten und dies ist an Olympia ein wichtiger Faktor.
20. Februar 2022. Für das letzte Rennen, den 30er der Damen, erwarten uns ähnliche Wetterverhältnisse. Wir entscheiden uns für einen früheren Start um 11 Uhr satt um 14.30 Uhr. Trotz allen Massnahmen, der Wettkampf für die Damen wird brutal. Gegen Ende des Laufes stärken die Böen auf. Wir hätten wohl den Start noch früher ansetzen sollen. Aber naja – im Nachhinein ist man immer schlauer.
Tschüss Olympia – ich komme wieder!
2006 durfte ich die olympischen Spiele als Athletin erleben. Und den erfolgreichen 15. Rang für mich nach Hause nehmen. Nun durfte ich Olympia in einer ganz anderen Rolle wahrnehmen und mich voll und ganz auf meine Funktion als TD konzentrieren. Von diesen drei Wochen bleiben viele bleibende Eindrücke, Episoden, Geschichten zurück. Zusammen mit der FIS und der Jury hatten wir ein geniales Team und die Stimmung blieb bis am Ende super. Die vielen chinesischen Volunteers werden vielleicht nie mehr Schnee sehen, oder einen Langlaufwettkampf veranstalten, aber ich glaube, sie haben die Zeit mit uns genauso genossen wie wir mit ihnen. Das olympische Fieber lässt mich nicht los. Und wer weiss – vielleicht darf ich mich wieder davon packen lassen, in Milano Cortina 2026😊
p.s. danke an Belinda für die Mithilfe beim Text